[Buch] Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen
„Es ist ein erbitterter Kampf ausgebrochen in Deutschland. Vordergründig geht es um Defnitionen und wissenschaftliche Methoden – tatsächlich aber um knallharte Interessenpolitik. Es ist die Armut in unserem Land, um die so verbissen gestritten wird. Je größer sie wird, umso hartnäckiger das Leugnen derer, die ihren Reichtum oder ihre Macht bedroht sehen und umso härter ihre Schläge gegen alle, die sich mit der sozialen Spaltung in Deutschland nicht abfinden wollen. Einige der prominentesten und renommiertesten Kritiker dieses neuen neoliberalen Mainstreams vereint dieser Band mit brillianten Analysen, entlarvenden Erzählungen und engagierten Plädoyers gegen Ausgrenzung und für eine Gesellschaft, die keinen zurücklässt.“ Klappentext zum Buch von Ulrich Schneider (Hg.)(ISBN: 978-3-86489-114-4, 208 Seiten, EUR 14.99) beim Westend Verlag, mit Beiträgen von Ulrich Schneider, Christoph Butterwegge, Friedhelm Hengsbach SJ, Rudolf Martens und Stefan Sell. Siehe dazu Informationen und Bestellung beim Westend Verlag , Leseprobe von Rudolf Martens und Besprechung von Albrecht Goeschel:
„Die Tafeln sind ein notwendiges Übel“
Das Abschlußkapitel (S.171-174) des Beitrags von Rudolf Martens „Armut im Überfluss. Was uns das Wachsen der Tafeln über Armut in Deutschland verrät“ als exklusive Leseprobe im LabourNet Germany
»Die deutschen Tafeln sind ein herausragendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement. (…) Aus Sicht der Bundesregierung ist es auch positiv zu bewerten, wenn sich Personen mit geringem Einkommen kostenbewusst verhalten und deshalb ergänzende Möglichkeiten nutzen, um sich möglichst günstig mit Produkten des täglichen Bedarfs zu versorgen.« So die Bundesregierung 2008 in einer Antwort auf Fragen der Fraktion der Linken im Bundestag. Wenn »sich Personen mit geringem Einkommen kostenbewusst verhalten und deshalb ergänzende Möglichkeiten nutzen, um sich möglichst günstig mit Produkten des täglichen Bedarfs zu versorgen«, findet das die Bundesregierung »als positiv zu bewerten«. Die jetzige Bundesregierung sieht in den Tafeln »eine wichtige Ergänzung der vorhandenen staatlichen Sozialleistungen«. Demnach sollen die Tafeln als Super-Aldi-Lidl herhalten, um Niedrigeinkommensbezieher, Hartz-IV-Bezieher und Grundsicherungsempfänger finanziell besser zu stellen. Sind sich die ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen in den Tafeln dieser doch sehr zweifelhaften Instrumentalisierung bewusst?
Die Tafeln als »herausragendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement« – so werden sie gerne von politischer Seite gelobt und gerne auch zur Selbstinszenierung genutzt. Bei solchen Inszenierungen wird oft das Tafelwachstum herausgestrichen und wie viele Menschen wöchentlich versorgt werden, darunter auch zahlreiche Alte und Kinder. Die Tafeln sind wie die Armutsquoten: Sie zeigen an, dass etwas faul ist in Deutschland. Die Tafeln werden gelobt, um die Armutsquoten machen viele Politikerinnen und Politiker hingegen lieber eine großen Bogen. Armut ist kein Gewinnerthema. So verbleibt die politische Routine lieber an der Oberfläche der Tafelarbeit und fragt nicht nach. Zum Beispiel, warum sich unter den Tafelversorgten circa 30 Prozent Kinder und rund 17 Prozent Rentnerinnen und Rentner befinden neben circa 53 Prozent Erwachsenen im berufsfähigen Alter.
2014 betrug die Einwohnerzahl Deutschlands 81,1 Millionen Personen, bei einer Armutsquote von 15,4 Prozent leben also 12,5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsschwelle (917 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt in 2014). Zuvor wurde die Zahl der langfristig in Armut lebenden Personen auf fünf bis sechs Millionen geschätzt. Die Tafeln können wöchentlich etwas mehr als eine Million Personen mit Lebensmitteln teilversorgen. 44 Allein die Gegenüberstellung der eine Million Menschen, die von den Tafeln teilversorgt werden, zu den fünf bis sechs Millionen Personen, die langfristig arm sind, oder zu den über zwölf Millionen Armen insgesamt, zeigt: Eine flächendeckende Teilversorgung durch die Tafeln ist völlig unmöglich.
Und dennoch: Hartz-IV-Beratungsstellen kennen das und sind nicht überrascht, wenn sie erfahren, dass Jobcenter auf die Tafeln verweisen. Nach einer Entscheidung des Sozialgerichts Bremen ist es allerdings nicht statthaft, wenn Jobcenter Hartz-IVEmpfänger auf Lebensmitteltafeln oder Lebensmittelgutscheine verweisen. Ein Jobcenter solle dem Betreffenden ein Darlehen für Lebensmittel gewähren, wenn er mittellos ist und seine Regelleistung verbraucht hat. Keinesfalls könne der Staat seine Verantwortung für die Sicherstellung des Existenzminimums auf die Tafeln, also auf ehrenamtliche Einrichtungen abwälzen.
Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Warum ist die Anzahl der Tafeln so stark gewachsen? Und stellen noch eine weitere Frage: Welche sozialpolitischen Forderungen ergeben sich daraus?
Die Tafeln sind nach der Wiedervereinigung in eine sozialpolitische Situation hineingegründet worden, in der sich aus hohen Arbeitslosigkeitszahlen eine neue Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt hat. Schon vor der Jahrtausendwende war es politischer Wille, einen Niedriglohnsektor zu installieren. Insgesamt ein »Gestaltwandel des Arbeitsmarktes« (Statistisches Bundesamt), bei dem Wirtschaftswachstum und Einkommensverbesserungen der abhängig Beschäftigten entkoppelt wurden. Wirtschaftswachstum, steigende Beschäftigtenzahlen auf dem Arbeitsmarkt und zugleich hohe Quoten relativer Einkommensarmut bilden etwas, was man das deutsche Armutsparadoxon nennen könnte. Und nicht zu vergessen der entscheidende Faktor Zeit: Armutsphasen dauern heute länger und Aufstiege in höhere Einkommensschichten sind schwieriger geworden. Das zusammen hat einen »Sog«, einen Bedarf erzeugt, in den die Tafeln zunächst mit ihrem Konzept der Versorgung von Wohnungsloseneinrichtungen und obdachlosen Menschen hineingewachsen sind.
Die tieferen Ursachen, der Niedriglohnsektor und die Entkopplung von Wirtschaftserfolg und Einkommen der abhängig Beschäftigten lassen sich nur langfristig ändern, wenn denn der politische Wille vorhanden ist. Vielleicht ist der Mindestlohn ein Anfang. Viele Fachleute rechnen zudem künftig mit einem starken Anwachsen der Altersarmut.46 Dies ist sicherlich eine Folge der Langzeitarbeitslosigkeit. Aber nicht nur. Die Rentenreformen seit 1991 haben zusätzlich das Rentenniveau systematisch gesenkt und werden es weiter senken. In der Wirkung haben die Rentenreformen die Altersarmut befördert.47 Angesichts dieser unbestrittenen Tatsachen stünde dringend eine Änderung der bisherigen Rentenpolitik an.
Beides, die Einkommens- und die Rentenpolitik, sind Bereiche, die sich in Deutschland nur in vielen Jahren ändern lassen, jedenfalls nach bisheriger Erfahrung. Sofort helfen würde eine Anhebung des Regelsatzes. Bedarfsdeckende Regelsätze könnten ein Existenzminimum (Regelsatz plus Wohnkosten) sicherstellen, das nicht nur für eine Überbrückung von wenigen Monaten taugt, sondern Familien mit und ohne Kindern auch viele Jahre menschenwürdig leben lässt. Der Regelsatz für Ein-Personen-Haushalte liegt 2015 bei 399 Euro, 2014 wird er 404 Euro betragen. Ein bedarfsdeckender Regelsatz liegt aber eher bei 500 Euro und nicht bei 400 Euro, wie das zuvor ausgeführt wurde.
»Das Problem sind nicht immer die Tafeln, sondern die Notwendigkeit, aus der heraus Tafeln entstanden sind. Bräuchte man sie nicht, sie wären schnell wieder verschwunden. Sie sind im Moment ein notwendiges Übel, weil es uns allen nicht gelungen ist, ausreichend Druck zu erzeugen, damit die letzte Regelsatzberechnung endlich korrekt erfolgt wäre.« Eine anonyme Stimme aus dem Netz bringt die ungenügende Regelsatzhöhe und die Rolle der Tafel auf den Punkt.
»Wir stellen klare Forderungen, zum Beispiel nach einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Wir müssen das schlechte Gewissen der Sozialpolitik sein«, und »die Aufgabe der Tafeln ist es langfristig, sich selbst überflüssig zu machen«, so Gerd Häuser, Vorsitzender der Tafeln bis 2013. So ist es.
Armut: Bestandteil des Geschäftsmodell Deutschland und des kapitalistischen Sozialstaats
Besprechung von Albrecht Goeschel
Sie haben es wieder vorgemacht, wie es gar nicht geht: Zwei bekannte Anführer des deutschen Verbesserungshaufens, U. Schneider und Chr. Butterwegge, liefern mit ihrem neuesten literarischen Armutsschinken auf dem Büchertisch nichts weiter als eine eitel-langweilige Klageschrift zum politisch-medialen Hick-Hack um den richtigen oder falschen „Armutsbegriff“.
Das Werk, an dessen Anfang sich die beiden, wie stets beim Thema „Armut“, gedrängelt haben, heißt hochtrabend „Kampf um die Armut“ *). Anstatt aber die Armut endlich als notwendiges Funktionselement des „Geschäftsmodell Deutschland“ , also Exportexzess durch Lohndumping etc. und vor allem als Resultat des heißgeliebten kapitalistischen Sozialstaats, also Hartz IV-Ghetto etc. zu erklären, tun die Herren nur empört darüber, dass ihnen der eine oder andere Neoliberale Aufmerksamkeit widmet und ihren „Armutsbegriff“ streitig macht: „Kampf um die Armut“? Bestenfalls Mönchsgezänk!
Es gibt aber auch Positives zu vermelden: Rudolf Martens, Erfinder des deutschen „Armutsatlas“ hat am Beispiel der Tafelbewegung eine weitere seiner gründlichen Analysen über die Verfahren der Armutsproduktion im kapitalistischen deutschen Sozialstaat vorgelegt. Sein Beitrag „Armut im Überfluss: Was uns das Wachsen der Tafeln über Armut in Deutschland verrät“ wurde leider auf die letzten dreißig Seiten des „Kampf um die Armut“ verbannt – was uns vor allem einiges über den „Armutsdiskurs“ in Deutschland verrät.
Martens arbeitet am Symptom „Tafelbewegung“ heraus, dass und wie „Armut“, d.h. Mangellagen, insbesondere legislativ und administrativ erzwungener Geldmangel in den zurückliegenden Jahren von einer individuellen Episode zu kollektiven Biografien verzeitlicht und damit verfestigt worden ist. Mangellagen sind mittlerweile Dauerzustände bei den Insassen von SGB II und SGB XII.
Martens schreibt zusammen fassend: “Warum ist die Anzahl der Tafeln so stark gewachsen?… Die Tafeln sind nach der Wiedervereinigung in eine sozialpolitische Situation hineingegründet worden, in der sich aus hohen Arbeitslosigkeitszahlen eine neue Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt hat. Schon vor der Jahrtausendwende war es politischer Wille, einen Niedriglohnsektor zu installieren. Insgesamt ein „Gestaltwandel des Arbeitsmarktes“… , bei dem Wirtschaftswachstum und Einkommensverbesserungen der abhängig Beschäftigten entkoppelt wurden. Wirtschaftswachstum, steigende Beschäftigtenzahlen auf dem Arbeitsmarkt und zugleich hohe Quoten relativer Einkommensarmut bilden etwas, was man das deutsche Armutsparadoxon nennen könnte. Und nicht zu vergessen der entscheidende Faktor Zeit: Armutsphasen dauern heute länger und Aufstiege in höhere Einkommensschichten sind schwieriger geworden. Das zusammen hat einen „Sog“, einen Bedarf erzeugt, in den die Tafeln zunächst mit ihrem Konzept der Versorgung von Wohnungsloseneinrichtungen und obdachlosen Menschen hineingewachsen sind.“
Rudolf Martens hat in den zurückliegenden Jahren für eine Reihe von Sektoren des „Sozialstaats“ untersucht, wie dort systematisch Mangellagen produziert wurden und produziert werden: Im Bildungsbereich; in der Gesundheits- und Pflegeversorgung; in der Alterssicherung; in der Wohnungs- und Verkehrsversorgung. Einiges davon findet man bei LabourNet.