Abgespeist – Überflüssig Gemachte und Gemachtes an einer Tafel – von Günther Salz
Artikel von Günther Salz, erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12
„Das Geschäft mit den »Tafeln« boomt. Ursprünglich eine Einrichtung für Wohnsitzlose, präsentiert es sich nicht nur als zunehmend unverzichtbare armutspolitische Kompensation für sozialstaatliche Defizite, sondern mittlerweile auch als günstiger, imageförderlicher und auch noch ›ökologischer‹ Ausweg aus den Verwertungsproblemen des Lebensmitteleinzelhandels. Sogar einen »Nachhaltigkeitspreis« gab es für den Bundestafelverband bereits, verliehen vom Lebensmittelhandel. Doch wollten sich die Tafel-Betreiber nicht eigentlich selbst überflüssig machen? Und liefert die Etablierung und Professionalisierung der Tafeln nicht gerade die Legitimation dafür, den Sozialstaat ab- und mittelalterlich-feudale Almosen- und Fürsorgemaßnahmen wieder aufzubauen? Grund genug zum Nachdenken, auch in den Kirchen. Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) in der Diözese Trier hatte daher am 31. August zu der Veranstaltung »Kritik und Überwindung der Tafelgesellschaft« eingeladen, auf der Stefan Selke, Sozialwissenschaftler und Tafelforscher, Ludwig Geissbauer, Landesvertreter der Tafelbewegung Rheinland-Pfalz und Saarland, sowie Anton Kobel und der damalige Diözesanvorsitzende Günther Salz ihre Thesen vorstellten. Passend zur Vorweihnachtszeit dokumentieren wir im Folgenden den Einleitungsbeitrag von Günther Salz, in dem er das nachhaltige Geschäft mit dem Abfall einer gründlichen Betrachtung und Kritik unterzieht und mit dem er nicht nur seine KollegInnen in den Kirchen, sondern auch viele andere edle SpenderInnen provozieren dürfte, und auf den Beitrag von Anton Kobel, der sich mit dem Nutzen der modernen Armenspeisungen für den Lebensmittelhandel beschäftigt…“
In dem Maße, wie Armut und Ungleichheit zugenommen haben, ist auch die Tafelbewegung als »Brücke zwischen Überfluss und Mangel« gewachsen. Aus der ersten Tafel für Obdachlose in Berlin 1993 ist eine halbprofessionelle Tafelbewegung für arme Jederfrauen und -männer geworden mit mehr als 2 000 Ausgabestellen und 1,5 Millionen NutzerInnen. Eine der größten öffentlich-privaten Partnerschaften nach dem 2. Weltkrieg, die so ganz in den verschlankten, neoliberalen Sozialstaat passt. Ein Ansatz, der den wegen ihrer Ausbeutungs- und Ausspitzelungs-Methoden in die Kritik geratenen Lebensmittel-Discountern wie gerufen kam. Metro-Chef Caparros z.B. freute sich öffentlich, dass er nun den armen Menschen als »Lebens-Mittler« (!) helfen und ihnen eine Perspektive geben könne.
Aber auch viele katholische und evangelische Pfarrer und manche Caritas- und Diakonie-Vertreter sind ganz in ihrem Element, wenn sie Tafeln einweihen oder von christlicher Nächstenliebe, ja bisweilen gar von einer Vorform des Reiches Gottes fabulieren können.
Da es nach der Lebensmittel-Branche auch der Politik aufgefallen ist, dass immer mehr Lebensmittel entsorgt oder einfach weggeworfen werden, kam ein neues Motiv, das der »Nachhaltigkeit« ins Spiel. So wurde der Bundesverband der Tafeln 2011 mit dem Nachhaltigkeitspreis »Ecocare« der Lebensmittel-Wirtschaft ausgezeichnet. Schließlich sorge er dafür, dass große Mengen von Esswaren vor der Vernichtung bewahrt und rationell an die Tafeln verteilt würden. Auf diese Weise macht sich der Bundesverband, der nach eigenen Angaben gegen Armut kämpft, sowohl armuts- als auch ökopolitisch unverzichtbar. Kann man angesichts dieser Entwicklungen noch annehmen, dass sich die Tafeln und der Bundesverband »überflüssig« machen wollen? Und geht es hier um »Nachhaltigkeit«, wo doch die Überproduktion von Lebensmitteln die Geschäftsgrundlage der Tafeln ist?
Bei dieser Fragestellung sind wir schon mitten in der kapitalistischen Ökonomie, die den Bezugsrahmen von Armut und Überfluss ebenso wie für die Tafelbewegung darstellt. Dieser muss geklärt werden, wenn wir einigermaßen zureichend über unser Thema sprechen wollen. Werfen wir also einen Blick auf die Unterwelt der Warenwelt.
Tafeln, Überproduktion und Armut sind Erscheinungen der Warenproduktion, einer verrückten Reichtumsform, in der Güter nicht eigentlich zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert werden, sondern zum Zweck der Geldvermehrung beziehungsweise zur Kapitalakkumulation. Lebensmittel werden im Kapitalismus aus Profitgründen hergestellt und vertrieben und nicht, weil Menschen essen und trinken wollen. Mittels permanenter Überproduktion von Lebensmitteln werden Ansprüche auf die vorhandene Massenkaufkraft geltend gemacht. In der Konkurrenz spekulieren die Unternehmen darauf, mit aggressiver Werbung, Preiskampf und Marktverdrängung trotz allgemeiner Überproduktion immer noch einen größeren Mehrwert für sich einfahren zu können. In der Logik dieser Strategien liegt es auch, die Fristen für das Mindesthaltbarkeitsdatum zu verkürzen, um den Warenumschlag und damit die Profite zu erhöhen. Der hierdurch zusätzlich anfallende Müll und seine Entsorgungskosten werden »eingepreist« und auf alle Waren umgelegt. Am Ende hat man schließlich die Tafeln.
In diesem System ist es auch rational, nicht nur überflüssige Waren zu produzieren, sondern auch überflüssige Arbeitskraft. Denn in der Konkurrenz setzt sich in der Regel der Billigste durch. Der Billigste ist der mit der höchsten Arbeitsproduktivität, welcher mit möglichst viel Maschineneinsatz und möglichst wenig Menschenkraft produziert und dabei möglichst geringe Löhne zahlt – oder der, dem es gelingt, Menschen noch billiger als Maschinen einzusetzen. So verschafft man sich Wettbewerbsvorteile. Gesellschaftlich entsteht so aber Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeit und Armut, die noch durch staatliche Deregulierung der Arbeitsverhältnisse befördert wird.
Auf diese Weise kommen überproduzierte, auf dem Markt auch nicht mehr durch absolute Niedrigpreise absetzbare Warenberge, die ihren Tauschwert verloren haben, mit überflüssig und arm gemachten Menschen, die ihre Würde verloren haben, an den Tafeln zusammen. Diese Erscheinung für einen sozialpolitischen Fortschritt auszugeben, wie es Ministerin von der Leyen tat, ist für mich schlichtweg pervers. Hierzu ein Zitat der ehemaligen Schirmherrin der Tafeln: »Ich bin davon überzeugt, dass unser Land menschlicher, ideenreicher und sogar effektiver (!) wird, wenn sich Zivilgesellschaft und auch die Unternehmen engagieren«.
Ich sehe das ganz anders. Die Tafeln sind für mich nicht bloß ein Ergebnis sozialstaatlichen Sittenverfalls, sondern ein Zeichen des Unheils, ein Menetekel. Als gesellschaftliche Erscheinung sind sie Ausdruck der Selbst- und Weltzerstörungspotenziale des Kapitals, weil genau die zwanghaft gesteigerte Arbeitsproduktivität mit ihrem erhöhten Ausstoß an Produkten die Grundlagen des Lebens, die menschliche Arbeit und die Natur, immer deutlicher zerstört. Ein Viertel des weltweiten Wasservorkommens wird für den Anbau von Nahrungsmitteln verbraucht, die später auf dem Müll landen!
Die Tafeln sind deshalb auch Ausläufer des kapitalistischen Wachstumszwangs und Teil der ökologischen Krise statt ein Instrument der Nachhaltigkeit. Das, was wir für normal ansehen, der Markt und die Warenproduktion, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als destruktives und widersprüchliches System, das auf eine fundamentale Krise zutreibt. In diesem System werden die abhängig Beschäftigten zu gesteigerter Leistung und noch mehr Konsum angetrieben und arme Leute mit Warenmüll abgespeist und sozial begraben.
All diese Systemursachen und -erscheinungen werden gewöhnlich sowohl in der öffentlichen Debatte, in der Fachdiskussion und ganz besonders in der Praxis der Tafeln ausgeblendet. Man begnügt sich mit pragmatischen Maßnahmen und gibt den Armen, was vom Tische der Reichen fällt. So wird Gerechtigkeit durch bloße Barmherzigkeit und der Sozialstaat durch private Wohltätigkeit ersetzt; so werden hilfsbereite Menschen von Politik und Lebensmittel-Konzernen für fremde Zwecke instrumentalisiert; so werden arme Leute aus dem normalen Leben in eine Almosenökonomie abgedrängt und hierdurch strukturell entwürdigt; so werden Geldleistungen durch Sachleistungen ersetzt; so wird Armen das notwendige Existenzminimum mit heimlichem Blick auf die Tafeln verweigert und dadurch auch die Forderung nach anständigen Mindestlöhnen unterhöhlt; so werden die Profiteure des Tafelsystems – insbesondere Lebensmittel-Handel und Politik – als Wohltäter verkleidet und arme Menschen dazu genötigt, den kapitalistischen Warenmüll zu konsumieren – wobei dies dann auch noch zur Nachhaltigkeitsstrategie verklärt wird.
Aus meiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer der Liga der Wohlfahrtsverbände in Rheinland-Pfalz weiß ich, dass auch viele Tafelträger und Tafelhelfer manchmal unzufrieden sind mit dem, was sie tun. Sie sagen sich: Eigentlich dürfte es in einer so reichen Gesellschaft wie der unsrigen keine Armut und keine Tafeln geben. Bei einer Liga-Tagung vor drei Jahren bekundeten mehr als die Hälfte der TafelvertreterInnen, dass sie sich perspektivisch überflüssig machen wollten. Aber wie kann das gehen – zumal der Systemzusammenhang ja mit bedacht werden muss?
Zumindest müsste man drei Ebenen berücksichtigen:
1. Sozialpädagogisch-pragmatische Ebene
Gibt es Ansätze, die die strukturell vorgegebene Stigmatisierung und Entwürdigung der Tafel»kunden« reduzieren und ihre Gleichberechtigung und Selbstorganisationsfähigkeit fördern? Könnten die Betroffenen die Sache selbst in die Hand nehmen? (Zum Beispiel mit Hilfe eines »second hand-Handels für Lebensmittel« oder mit »Volxküchen«, in denen sonst Weggeworfenes verbraucht und gemeinsam gegessen wird.) Könnte man dem Lebensmittel-Handel mehr Selbstverantwortung zuweisen, indem er abgelaufene Ware generell billiger verkauft oder verschenkt? Und vor allem: Wie kann die Politisierung der Tafelträger und ihrer Helfer, aber auch der Tafelnutzer gelingen?
2. Verteilungspolitische Ebene
Wie kann die notwendige Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze, der Grundsicherungsbeträge für Ältere, die Angleichung der Leistungen für AsylbewerberInnen und Flüchtlinge und die Einführung auskömmlicher gesetzlicher Mindestlöhne durchgesetzt werden? Und wie eine gerechte Steuerpolitik?
3. System-Ebene
Wie ich versucht habe darzustellen, ist es schwer, in verkehrten Verhältnissen das Richtige zu tun. Selbst mit einer »Normalisierung« in Form erhöhter Regelsätze und Löhne wären das Systemproblem der konkurrenz- und profitgesteuerten Überproduktion mit seiner Selbstzerstörungstendenz und die ausbeuterische, abhängige Lohnarbeit nicht beseitigt. Deshalb müssen wir auch eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung, einen Formwechsel von Produktion und Verteilung ins Auge fassen. Wir in der KAB haben dafür den Begriff der »Tätigkeitsgesellschaft« entwickelt, Karl Marx sprach von einem »Verein freier Menschen«. Wir KABler haben aber auch die biblische Zusage aus dem 5. Buch Mose, wonach es in einer gerechten und freien Gesellschaft keine Armut geben muss. Diese Zusage nehmen wir ernst.
* Günther Salz war bis vor kurzem Diözesanvorsitzender im KAB-Diözesanverband Trier und hat von 2008 bis 2012 das Projekt »Lebensmittel-Tafeln« im Rahmen der sog. »Sozialfuchs-Kampagne« geleitet, mit der »unwürdige gesellschaftliche Zustände« aufgedeckt und öffentlich gemacht, aber auch »Positives« aufgespürt und eigene Aktivitäten entwickelt werden sollten.
Weitere Informationen unter: www.tafelforum.de und www.kab-trier.de
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12, express im Netz unter:www.express-afp.info , www.labournet.de/express