[Buch] Chaos. Das neue Zeitalter der Revolution

[Buch] Chaos. Das neue Zeitalter der Revolution„… Fabian Scheidlers Diagnose: Nach 500 Jahren Expansion ist die kapitalistische Megamaschine in die tiefste Krise ihrer Geschichte geraten. Wir bewegen uns in eine chaotische Übergangsphase hinein, die einige Jahrzehnte andauern kann und deren Ausgang vollkommen offen ist. Während die alten Ordnungen brüchig werden, entflammt ein Kampf darum, wer die Zukunft bestimmen und wie diese aussehen wird. Werden sich autoritäre Kräfte durchsetzen oder können soziale und ökologische Bewegungen die systemischen Risse nutzen, um eine gerechtere und friedlichere Welt aufzubauen? Welche Rolle spielt Chinas Aufstieg in der neuen Weltunordnung? Und wo zeichnen sich neue Wege des Wirtschaftens und Zusammenlebens ab, die das gegenwärtige System der „globalen Apartheid“ überwinden könnten? „Das neue Zeitalter der Revolutionen“ lotet Gefahren und Chancen dieser Übergangszeit aus und bietet einen Kompass für politisches Engagement in Zeiten wachsender Unübersichtlichkeit…“ Aus der Info des Promedia Verlag zum neuen Buch von Fabian Scheidler (Wien 2017, ISBN 978-3-85371-426-3, br., 240 Seiten, 17,90 Euro / E-Book: 14,90 Euro (ISBN: 978-3-85371-856-8.)). Siehe weitere Infos zum Buch, eine Rezension sowie das Kapitel „Chaos in der Weltwirtschaft“ als Leseprobe im LabourNet Germany – wir danken dem Verlag!

  • Chaos – ein neues Zeitalter kommt nicht auf leisen Sohlen
    Zwei Jahre nach »Das Ende der Megamaschine« nähert sich Fabian Scheidler in seinem Buch »Chaos« an das »neue Zeitalter der Revolutionen« an. Jener Punkt, an dem sich ein System zwischen zwei scheinbar gleichwertigen Möglichkeiten der Weiterentwicklung entscheiden kann, nennt man den Bifurkationspunkt. Uns mag diese Zeit der Entscheidung, in der nicht klar ist, was kommen wird, als verstörendes Chaos vorkommen, aber das ist es nicht. Am Bifurkationspunkt ist schon viel sortiert, die Welt steht vor dem Wesentlichen. (…) Die notwendige Fortschreibung der »Megamaschine« ist nun erschienen, Scheidler nennt das Buch »Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen«. Es ist, wie das erste Buch, gut geschrieben, überraschend in Aufbau und Schlussfolgerungen, über weite Strecken erzählend, ohne jemals den Boden des Sachbuchs zu verlassen. Fabian Scheidlers Art, Sachverhalte zu erklären, Schlussfolgerungen zu ziehen und Vorschläge zur Diskussion zu stellen, kommt ohne Manierismen aus und – das ist nicht unwichtig – ohne Arroganz. (…) Wir sind am Bifurkationspunkt, die Entscheidung, wohin diese Entwicklung läuft, ob sie die Gefahren vergrößern oder die Chancen auf was Besseres erweitern wird, ist noch nicht gefallen.“ Rezension von Kathrin Gerlof vom 23. Oktober 2017 beim OXI-Blog externer Link

______________________

Chaos in der Weltwirtschaft

In fast allen Ländern der Erde, ob in den USA, in China, Indien oder Deutschland, geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Im Jahr 2015 besaßen 62 Männer so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, 2016 waren es nur noch acht.54 Diese Armutsschere ist längst auch in der EU zu beobachten. In großen Teilen Südeuropas etwa herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent, eine ganze Generation verliert ihre Zukunftsperspektive.

Bei einer befreundeten italienischen Bauernfamilie, die nebenher ein Restaurant betreibt, starb kürzlich der alte »Padrone«. Die Familie hatte kein Geld für eine Beerdigung oder ein Urnengrab, also stellte sie sich die Asche des Opas einfach ins Regal. Die Familienmitglieder stehen seit ihrer Kindheit jeden Morgen um fünf Uhr auf und arbeiten bis spätabends, auch an den Wochenenden. Am Ende reicht das Geld nicht einmal für eine Beerdigung – und das in einem der wohlhabendsten Länder der Erde. Auf dem Fernseher, der neben der Urne im Regal steht, wird währenddessen angekündigt, dass die italienische Bank Monte dei Paschi di Siena mit 20 Milliarden Euro aus Steuergeldern gerettet werden soll. Die beiden Enkel des Padrone, beide volljährig und ohne Lohnarbeit, sitzen auf dem Sofa und schauen stumm zu. Sie wohnen noch immer zuhause. Und es sieht so aus, als ob das auch so bleiben würde. Das Restaurant ist inzwischen geschlossen, weil sich die Familie die Kosten für die exorbitant teure Müllabfuhr nicht mehr leisten kann.

Die Szenerie ist typisch für viele südeuropäische Länder. Auf dem Balkan ist schon seit fünfundzwanzig Jahren, seit dem Zusammenbruch Jugoslawiens, eine massive Verarmung und ein Exodus der jungen Generation im Gange. Auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Ägypten, Tunesien oder Algerien, sieht es noch schlechter aus. Ein junger Algerier, der dreimal vergeblich versucht hat, über das Meer nach Europa zu kommen, berichtet: »Die Bilanz meines Lebens ist absolut negativ. Ich bin ohne Arbeit und ohne Wohnung. In Algerien sind sogar Ärzte und Ingenieure arbeitslos.«55 Das einzige nordafrikanische Land mit geringer Arbeitslosigkeit war bis 2011 Libyen. Seit dem Bürgerkrieg und der NATO-Intervention ist es nun ein Trümmerhaufen. Wie auch große Teile des Nahen Ostens.

Das Ende des Wachstums oder: Der Kapitalismus siegt sich zu Tode

Die desolate Lage im Mittelmeerraum ist ein Symptom für die strukturelle Krise der Weltwirtschaft, die in den 1970er-Jahren begann und sich seither von den Peripherien zu den Zentren frisst. Sie zeigt sich an einigen recht einfachen Zahlen, die jenseits der üblichen Konjunkturschwankungen die langfristigen Trends dokumentieren. Während in den 1950er- und 1960er-Jahren das weltweite Wirtschaftswachstum pro Kopf sich um die Marke von etwa drei Prozent bewegte, schwankt es seit Mitte der 1970er-Jahre um nur noch ein Prozent – mit sehr großen Ausschlägen nach unten.56 Seit geraumer Zeit geht dieses Wachstum außerdem im Wesentlichen auf China zurück, in weiten Teilen der Welt stagniert oder schrumpft die Wirtschaftsleistung pro Kopf. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs gab es außerdem einen absoluten Rückgang des Weltsozialproduktes, und das sogar zweimal innerhalb von sieben Jahren: einmal 2009 und zuletzt 2015.57

Nun kann man natürlich mit einiger Berechtigung fragen, was denn an einem langfristig stagnierenden Sozialprodukt so schlimm sei. Gibt es denn nicht genug Reichtum auf der Welt, den man nur anders verteilen müsste? Warum muss die Wirtschaft in eine Krise geraten, wenn ihre in Geldwerten gemessene Leistung konstant bleibt? Tatsächlich kann eine nicht-kapitalistische Wirtschaft, wie wir im zweiten Teil sehen werden, auch ohne BIP-Wachstum oder sogar mit einer Schrumpfung stabil bleiben und unter bestimmten Voraussetzungen sogar das Wohlergehen der Bürger dabei steigern. Solange die endlose Geldvermehrung aber das übergeordnete Prinzip der Ökonomie ist, bedeutet zu schwaches Wachstum, dass es zu wenig attraktive Investitionsgelegenheiten gibt – und damit Krisen, Arbeitslosigkeit, politisches Chaos.

Der wichtigste Grund für die Dauerkrise ist der Erfolg des Kapitalismus selbst. Mit dem neoliberalen Triumphzug der letzten 30 Jahre wurden Löhne gedrückt, Gewerkschaften geschwächt, soziale Sicherungen radikal abgebaut, Arbeitsplätze in Billiglohnländer und Gewinne in Steueroasen verlagert. Damit ist es Kapitalbesitzern gelungen, ihre Profitraten, die in den 1970er-Jahren massiv eingebrochen waren, wieder nach oben zu ziehen58 – um den Preis allerdings, dass das Gesamtsystem immer instabiler wird. Denn wenn ein Großteil der Menschen immer weniger verdient, dann stellt sich die Frage, wovon sie die ungeheure Masse von Produkten und Dienstleistungen kaufen sollen, die ständig angeboten wird. Und die Menge dieser Produkte muss in einer kapitalistischen Ökonomie ja ständig wachsen, damit sich das angehäufte Kapital weiter verwerten kann. Wir stehen also vor der Situation, dass immer mehr gekauft werden muss, um das System am Laufen zu halten, die meisten Menschen aber immer weniger Geld dafür in der Tasche haben. Die Lösung, die dafür gefunden wurde, schien zunächst sehr einfach: Schulden.

Schulden und Crashs

Es begann damit, dass Banker aus den USA und Westeuropa in der weltweiten Rezession der 1970er-Jahre Diktatoren im Globalen Süden umfangreiche Kredite für fragwürdige Großprojekte aufdrängten. Das meiste davon wirtschafteten die Autokraten in die eigene Tasche, während Tilgung und Zinseszins teilweise bis heute von den Bevölkerungen abgearbeitet werden müssen. Dann wurden, vor allem in den USA, finanzschwache Konsumenten mit Kreditkarten ausgerüstet, um auf Pump ihren American Way of Life zu finanzieren. Später waren es Kredite für Häuslebauer, die sich Eigenheime eigentlich gar nicht leisten konnten. Banker wiederum bastelten aus all den windigen Krediten undurchschaubare »Finanzprodukte«, die sie an ahnungslose Dritte weitergaben, und liehen sich, um ihren Profithebel zu vergrößern, selbst Unsummen. Auf diese Weise wurde eine Weile der Schein gewahrt, als könne alles so weiter gehen wie bisher. Als ein Großteil dieses Kartenhauses 2008 zusammenbrach, kauften die Staaten die Pleitebanken frei, während Zentralbanken den Finanzsektor mit billigem Geld fluteten, um das Spiel wieder in Gang zu bringen.

Das Ergebnis von all dem ist, dass die Verschuldung von Haushalten, Unternehmen und Staaten weltweit rasant wächst, und zwar wesentlich schneller als die Wirtschaftsleistung.59 William White, ehemaliger Chef­ökonom der Internationalen Bank für Zahlungsausgleich (die »Zentralbank der Zentralbanken«) war vor 2007 der einzige Zentralbanker, der die heraufziehende Krise richtig vorhergesagt hatte. Anfang 2016 warnte er vor einem neuen Crash:

Über die letzten acht Jahre haben sich die Schulden immer weiter aufgebaut und inzwischen in allen Teilen der Welt ein so hohes Niveau erreicht, dass sie ein gewaltiges Potenzial für Unheil darstellen. (…) In der nächsten Rezession wird es offensichtlich werden, dass viele dieser Schulden niemals bedient oder gar zurückgezahlt werden.60

Kein Mensch weiß, welche Schuldenblase zuerst platzen und damit die nächste Finanzkrise auslösen wird: ob es der aufgeblähte chinesische Immobilienmarkt ist, der Zahlungsausfall von Staaten, der marode Bankensektor der EU oder die »Kohlenstoffblase« der fossilen Industrien, deren billionenschwere Kohle- und Ölreserven nichts mehr wert sind, wenn mit dem Schwenk zu erneuerbaren Energien auch nur halbwegs ernst gemacht wird.61 Klar ist aber eines: Wenn es zu einer neuen Finanzkrise kommt, wird es einmal mehr heißen, dass Regierungen mit Steuergeldern Pleitebanken retten sollen, um uns vor dem Weltuntergang zu bewahren. Der Preis für neue Bail-outs wäre aber enorm, politisch wie ökonomisch. Denn eine erneute Abwälzung der Schuldenlawine auf die breite Bevölkerung würde massive politische Verwerfungen hervorrufen. Bereits die Bankenrettungen und die darauf folgende Austeritätspolitik seit 2008 haben die EU an den Rand des Auseinanderbrechens gebracht und die nationalen politischen Systeme tief erschüttert. Zugleich würden weitere Kürzungsprogramme die Kaufkraft zusätzlich schwächen – und damit das System noch weiter destabilisieren. Ohne Bail-outs aber würde ein kompletter Crash drohen. Das Gesamtsystem ist also in eine Lage geraten, in der es immer instabiler wird, egal welche Entscheidungen kurzfristig getroffen werden.

Die Krise der Lohnarbeit

In den 1990er-Jahren war in deutschen Wahlkämpfen überall das Wort »Zukunft« zu hören. Die Werbebranche und die Parteien glaubten damals offenbar, dass dies ein positiver Schlüsselreiz sei. Inzwischen ist das Wort weitgehend aus der Parteienwerbung verschwunden. Niemand will es mehr hören. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass kaum noch jemand ernsthaft glaubt, die Zukunft werde besser als die Gegenwart. Ökonomisch zeigt sich das etwa an der Tatsache, dass die Anzahl der Haushalte mit stagnierendem oder sinkendem Haushaltseinkommen in den vergangenen 20 Jahren dramatisch zugenommen hat. Hatten in Industriestaaten zwischen 1993 und 2005 nur null bis zwei Prozent der Haushalte stagnierende oder sinkende Einkommen, so sind es heute in Großbritannien 70, in den USA 81 und in Italien sage und schreibe 97 Prozent.62 Das ist ein epochaler Einschnitt: Er bedeutet das Ende der großen Wohlstandsverheißung, wie sie für den Westen mindestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wenn nicht seit der Zeit der Hochindustrialisierung prägend war.63

Erschwerend kommt hinzu, dass die Lohnarbeit nicht nur tendenziell schlechter bezahlt wird, sondern schlichtweg verschwindet. Die offiziellen Arbeitslosenstatistiken täuschen meist darüber hinweg, weil Regierungen immer wieder die Erhebungsmethoden verändern, um ihr Wirken als Erfolg zu verkaufen. In den USA etwa werden Menschen, die fünf Jahre und länger vergeblich einen Job gesucht haben, einfach aus der Statistik gestrichen. In Deutschland haben die Regierungen seit Gerhard Schröder 17-mal die Berechnungsmethoden geändert und damit mindestens eine Million Arbeitslose auf dem Papier verschwinden lassen.64 Während 2015 offiziell 2,6 Millionen Menschen arbeitslos waren, erhielten aber sieben Millionen Bundesbürger Arbeitslosengeld oder Hartz IV – doppelt so viele wie 25 Jahre zuvor. Selbst in Deutschland also, das mit seiner Exportwirtschaft global gesehen zu den großen Gewinnern gehört, bröckelt das System der klassischen Lohnarbeit langsam. In anderen Teilen der Welt sieht es weit extremer aus: In den meisten afrikanischen Ländern etwa haben nur 20 Prozent der arbeitsfähigen Menschen eine Lohnarbeit.65

Hinzu kommt ein Phänomen, das Sozialwissenschaftler »credential inflation« nennen: die Tatsache, dass Menschen einen immer größeren Teil ihrer Lebenszeit mit Schule, Ausbildungen und Sonderqualifikationen verbringen, bevor sie in den Arbeitsmarkt einsteigen. Dabei führen die zusätzlichen Jahre in Bildungseinrichtungen meistens nicht dazu, dass die Absolventen am Ende qualifiziertere Tätigkeiten ausüben. Aufgrund der großen Konkurrenz am Arbeitsmarkt müssen sie nur immer mehr Zertifikate anhäufen, um am Ende dieselben Jobs zu machen. Die Abschlüsse werden also weniger wert, sie inflationieren. Um es zugespitzt zu formulieren: Wer früher auch ohne Hauptschulabschluss noch Hausmeister werden konnte, muss heute im Masterstudiengang »Facility Management« studieren, um am Ende doch nur Glühbirnen auszutauschen. Der US-Soziologe Randall Collins schreibt dazu: »Die Inflation von Bildungszertifikaten hilft dabei, überschüssige Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt fernzuhalten.«66 Dadurch wird die steigende Arbeitslosigkeit zusätzlich kaschiert, finanziert in den meisten EU-Staaten durch die staatlichen Bildungssysteme, in den USA vor allem durch die Verschuldung von Studierenden, die sich ihre Ausbildung an den teuren Privatuniversitäten per Kredit finanzieren müssen.

Nationale Arbeitslosenstatistiken helfen aus all diesen Gründen wenig, wenn man verstehen will, was weltweit passiert. Wesentlich aussagekräftiger ist die von der Weltbank dokumentierte Entwicklung der globalen Beschäftigungsrate. Und die sinkt seit Anfang der 1990er-Jahre kontinuierlich.67 Das bedeutet, dass ein immer größerer Anteil der Weltbevölkerung keiner Lohnarbeit nachgeht.68

Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass weltweit menschliche Arbeit durch Technik ersetzt wird. Dieser Prozess ist schon lange in der Industrie und Landwirtschaft zu beobachten; durch die Digitalisierung greift er aber inzwischen auch auf den Dienstleistungssektor und damit auf die Mittelschicht über. Wenn Fahrtkartenverkäufer und Bankerinnen, Telefonisten und sogar Ärztinnen durch Automaten ersetzt werden, werden die Jobs rar. Dieser Trend hat längst auch schon China erreicht, wo ebenfalls Millionen von Arbeitsplätzen durch Roboter und Computer ersetzt werden. Der Handyproduzent Foxconn etwa, der allein 1,3 Millionen Menschen beschäftigt, will in Zukunft weitgehend ohne Arbeiter in den Fabrikhallen auskommen.69

Nicht allein die Quantität, sondern auch die Qualität der Arbeit verändert sich dramatisch. Nur ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung weltweit hat das, was wir als einen festen Arbeitsplatz bezeichnen würden, also ein stabiles Beschäftigungsverhältnis – Tendenz: sinkend. Die meisten verfügen über keinerlei Arbeitsvertrag, nicht einmal für wenige Tage, ganz zu schweigen von einer dauerhaften Anstellung. Und nur 16 Prozent der arbeitenden Weltbevölkerung besitzen eine Rentenversicherung.70 Dieser Trend hat längst auch die gut ausgebildeten Mittelschichten erreicht. Hinter den vielbeschworenen Start-ups, die als strahlende Zukunftsvision propagiert werden, verbirgt sich immer öfter ein neues »digitales Proletariat«, das ohne Sozialversicherung unterhalb der Mindestlöhne die Arbeiten einst gut bezahlter Angestellter übernimmt. Ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation befindet zusammenfassend: »Das Normalarbeitsverhältnis ist immer weniger repräsentativ für unsere heutige Arbeitswelt, weil immer weniger Menschen in solchen Verhältnissen beschäftigt sind.«71 Doch selbst diejenigen, die das knapper werdende Gut eines Normalarbeitsplatzes besitzen, sind damit alles andere als froh: Laut einer Gallup-Umfrage in 142 Ländern sind nur 13 Prozent der Werktätigen weltweit bei ihrer Arbeit motiviert.72

Das Versprechen, dass alle irgendwann Jobs und vielleicht sogar gute Jobs bekommen, wenn wir nur die Zähne zusammenbeißen und uns alle brav anstrengen, erweist sich als Phantom für die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung. In den Industriestaaten, in denen die Gesellschaften geradezu besessen von der Idee der Lohnarbeit sind, bedeutet das nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen tiefen kulturellen Bruch. Wenn Lebensentwürfe vor allem darauf beruhen, dass man sich irgendwo anstellen lässt, dann verschwinden mit den Jobs nicht nur Einkommen, sondern auch Sinnstiftung und Orientierung.

Der Zerfall der klassischen Lohnarbeit ist aber nicht nur ein Problem für die arbeitende und arbeitssuchende Bevölkerung, sondern auch für Kapitalbesitzer und das gesamte System der endlosen Geldvermehrung. Denn wer soll von welchen Löhnen noch die ständig wachsende Menge von Gütern und Dienstleistungen kaufen? Wie sollen, wenn der Kreislauf von Investition, Produktion, Profit und Reinvestition ins Stocken gerät, Kapitalbesitzer ihren Reichtum und ihre Macht in Zukunft sichern? Zumal, wenn die Verschuldungsspirale irgendwann ausgereizt ist? Eine mögliche Antwort zeichnet sich seit einiger Zeit ab. Sie besteht darin, das kapitalistische System der Profiterzielung mittels Produktion durch etwas anderes zu ersetzen. Nennen wir es: Tribut.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=123206
nach oben