Gingold-Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel: Wer schert sich schon um Verfassungen. Der Geheimdienst nicht – Gerichte auch nicht

Dossier

Silvia GingoldEin Verwaltungsgericht hat die Aufgabe, den einzelnen Bürger gegen unrechtmäßiges Verwaltungshandeln zu schützen. Dazu muss das Gericht nicht nur prüfen, ob die jeweiligen Behörden alle Rechtsvorschriften eingehalten haben, sondern auch, ob das Handeln und die Entscheidungen der Verwaltung unzulässig in die Grundrechte des Einzelnen eingreifen. Dieser Verantwortung hat sich das Kasseler Verwaltungsgericht im Verfahren von Silvia Gingold erkennbar nicht gestellt. (…) Allein die Tatsache, dass sie sich zusammen mit – vom hessischen LVS als „Linksextremisten“ bezeichneten – Persönlichkeiten und Organisationen in politischen Zusammenhängen befunden habe, reicht dem Gericht aus, um diese Form der Bespitzelung zu legitimieren…“ – aus der Stellungnahme „Silvia Gingold gegen Landesamt für Verfassungsschutz – Kasseler Verwaltungsgericht entzieht sich seiner Verantwortung“ der VVN-BDA Kassel externer Link vom 08. Oktober 2017. Siehe dazu weitere Beiträge – worin auch Thema ist, wie das Gericht auf die höchsteigene Interpretation kommt, die BRD-Verfassung verbiete Antikapitalismus:

  • Wegen jahrzehntelanger Bespitzelung durch den „Verfassungs“schutz: Silvia Gingold erhebt Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht New
    Silvia Gingold war Lehrerin, hatte wg. ihrer politschen Aktivitäten Berufsverbot erhalten und musste – auch auf internationalen Druck, insbesondere aus Frankreich, wo ihre Eltern in der Résistance kämpften – wieder in den Schuldienst eingestellt werden. Inzwischen schon lange Rentnerin, wurde und wird sie aber weiterhin, mittlerweile seit 60 Jahren, vom Hessischen Landesamt für „Verfassungs“schutz ausgespäht, auch in ihrem engsten persönlichen Umfeld. Silvia Gingold war und ist – neben anderen Betroffenen und unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF) – in den Jahren 2019 und 2023 in zwei Verfahren gegen gesetzliche Neuregelungen im hessischen Polizeirecht (HSOG) und im hessischen „Verfassungsschutz”gesetz als Klägerin vor dem Bundesverfassungsgericht aufgetreten. Am 05.02.2024 hat sie „in eigener Sache“ Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht.
    Der Hintergrund: Sie wird seit ihrem 17. Lebensjahr geheimdienstlich überwacht. Mit dem Ziel, dass ihre Überwachung beendet wird, klagte vor den hessischen Verwaltungsgerichten Wiesbaden und Kassel auf Herausgabe von bzw. Einsichtnahme in Akten, die das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) auch aktuell noch über sie führt. Da beide Gerichte ihren Anspruch ablehnten, klagte sie vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat Ende 2023 entschieden, der Verfassungsschutz dürfe die mittlerweile 77-Jährige weiterhin beobachten, Daten über sie sammeln und somit ihre grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte einschränken. Für diesen Beschluss hat sich das Gericht sechs Jahre Zeit genommen. (…)
    Die Frankfurter Rundschau externer Link und die Hessenschau externer Link berichteten vor wenigen Tagen umfangreich über die neu eingereichte Verfassungsbeschwerde. In der Hessenschau wird der Anwalt der Beschwerdeführerin zitiert mit der Aussage: „Es ist nicht erkennbar, in welcher Weise sie eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellen soll“. Sie habe in ihrem ganzen Leben immer das gelebt, was jetzt das Motto der großen Demonstrationen auf den Straßen sei: „Nie wieder. Das ist jetzt“. Mit dem Gang vors Bundesverfassungsgericht – so der Anwalt – will seine Mandantin erreichen, dass die Beobachtung eingestellt und die über sie gesammelten Daten gelöscht werden. Sowohl die Beobachtung durch den Verfassungsschutz als auch den gesamten Inhalt der Personenakte hält er für rechtswidrig
    .“ Beitrag vom 12.2.2024 bei dieDatenschützer Rhein Main externer Link
  • »Diese Erfahrung treibt mich an«: Die Sammelwut des Verfassungsschutzes zeigt, dass der »Radikalenerlass« von 1972 bis heute nachwirkt
    Die Lehrerin Silvia Gingold blickt im Interview von Markus Bernhardt in der jungen Welt vom 11. Januar 2022 externer Link auf ihre Erfahrungen mit dem Berufverbot in den 1970er Jahren zurück: „Meine politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich befürchteten, dass mit dem »Radikalenerlass« in erster Linie Marxisten, Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen getroffen werden sollten. Es hat dann jedoch unsere Vorstellungskraft übertroffen, dass die massenhafte Überwachung und Bespitzelung von Menschen, die irgendwann einmal durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Missständen aufgefallen sind, ein solches Ausmaß annehmen würde. Der Geist der 68er-Bewegung, Fragen nach der Nazivergangenheit von Politikern, Juristen, Lehrern und Hochschullehrern sowie zunehmende kapitalismuskritische und marxistische Ideen angesichts der ökonomischen Krise wurden als »verfassungsfeindlich« kriminalisiert, junge Menschen wurden eingeschüchtert, um demokratisches Engagement zu verhindern. (…) Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Kassel, das mich in meinem Prozess gegen das Land Hessen 1977 zur »Verfassungsfeindin« stempelte und mir meine Eignung als Beamtin verweigerte, beruhte auf der Prognose eines möglichen verfassungswidrigen Verhaltens allein aufgrund meiner Zugehörigkeit zur DKP, die als »verfassungsfeindlich« eingestuft wurde. Eine solche Prognose durch Gerichte galt für viele vom Berufsverbot Betroffene, teilweise von Richtern, die schon während der Nazizeit Urteile gegen Kommunistinnen und Kommunisten und andere Gegner des Naziregimes fällten. (…) Die meisten jungen Menschen wissen nichts über die Repressionen der 70er Jahre. Wir wollen, dass die Berufsverbote öffentlich als Unrecht anerkannt, die Unrechtsurteile aufgehoben, wir rehabilitiert und entschädigt werden. In diesem 50. Jahr seit dem »Radikalenerlass« werden wir unsere Forderungen an Politikerinnen und Politiker herantragen, mit ihnen Gespräche führen und die gesammelten Unterschriften, die von einer großen Unterstützung unserer Forderungen zeugen, an Regierungsverantwortliche übergeben.“
  • „Freibrief für Spitzelbehörde“ von Markus Bernhardt am 11. Oktober 2017 in der jungen welt externer Link, worin zur Verfassungsfrage ausgeführt wird: „Laut der vor wenigen Tagen übermittelten Urteilsbegründung folgen die Richter durchgängig der Sichtweise der Spitzelbehörde. Diese hatte behauptet, dass Gingold in die »linksextremistische Szene« eingebunden sei, und zielte damit unter anderem auf öffentliche Veranstaltungen ab, bei denen die Nazigegnerin etwa mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) oder der Linkspartei kooperiert hatte, um aus den Erinnerungen ihres Vaters zu lesen. Obwohl die Behörden behaupten, dass einzig einzelne Gliederungen der Linkspartei von den Inlandsgeheimdiensten überwacht würden, wird in der Urteilsbegründung explizit die Partei als »Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes« genannt. Darin finden sich auch weitere bemerkenswerte Sichtweisen der Richter. So werden darin nicht nur Personenkreise unter »Linksextremismusverdacht« gestellt, die angeblich die »parlamentarische Demokratie« ablehnten, sondern auch jene, die den Kapitalismus ablehnten. Letzterer genießt jedoch nicht einmal in der Bundesrepublik Verfassungsrang“.
  • „Klage unzulässig, Spitzelei nicht“ von Hans Gerd Öfinger bereits am 13. Januar 2017 in neues deutschland externer Link (und man hätte bei dieser ganzen Auseinandersetzung auch um Jahrzehnte zurück gehen können, seit denen die Frau von der VS Truppe verfolgt wird – sozusagen familiäre Kollektivhaftung): „Als Belege für ihren vorgeblichen »Linksextremismus« dienen etwa der Auftritt bei einer Kundgebung zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses 2012 in Frankfurt am Main, das Engagement im Kasseler Friedensforum, öffentliche Lesungen mit autobiografischen Texten ihres verstorbenen Vaters und Aufrufe zu Ostermärschen der Friedensbewegung. Beim Landesamt lagert auch die Aufzeichnung einer Marburger DGB-Veranstaltung 2014 über Berufsverbote und Verfassungsschutz, bei der neben Gingold der heutige Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow und der Politikwissenschaftler Frank Deppe auftraten. Vor allem stößt den Schlapphüten Gingolds Engagement in der antifaschistischen Organisation VVN/BDA auf, die nach geheimdienstlicher Lesart »linksextremistisch beeinflusst« ist. »Es ist skandalös, wenn meine VVN-Aktivitäten herangezogen werden«, so Gingold in einer Erklärung vor Gericht. »Mein Vater war Antifaschist und VVN-Mitbegründer in Hessen.«“.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=122547
nach oben