Migrationspolitik und Bürgerrechte: Europa in schlechter Gesellschaft
„In der Migrationspolitik findet die EU nur autoritäre Antworten. Was macht das mit ihren vielbeschworenen Werten? (…) Brüssel und die europäischen Hauptstädte – ausnahmsweise muss hier einmal nicht eigens auf Budapest, Warschau und Bratislava gezeigt werden – sind die eigentlich Handelnden. Libyen hat nur das Schlusskapitel dieser Geschichte geschrieben, die vor ein paar Jahren mit rhetorischem Dauerbeschuss begann: Die Seenotretter im Mittelmeer besorgten in Wirklichkeit das Geschäft der Schlepper, lautete der Spin. 2014 wurde die italienische Notrettungsinitiative „Mare Nostrum“ nach einem Jahr abgewürgt und in diesem Sommer schließlich sollten die NGOs im Mittelmeer über einen „Verhaltenskodex“ an die Kandare genommen werden. All dies galt dem Ziel, etwas unmöglich zu machen, was seit Jahrhunderten als Recht wie Pflicht auf dem Meer galt, als menschliches Gebot weit vor der Formulierung der allgemeinen Menschenrechte: Schiffbrüchigen und in Seenot Geratenen wird geholfen, unter allen Umständen und jedweder Regierungsform, die an Land gilt. Die Friedensnobelpreisträgerin EU, deren Eliten in jeder Sonntagsrede die demokratischen und rechtsstaatlichen Wurzeln des Kontinents besingen, hat als Bildungsplunder entlarvt, was alle in ihren höheren Schulen gelernt haben (…) Antigone begräbt ihren Bruder und beruft sich darauf, dass diese Pflicht über dem staatlichen Verbot steht. Es ist Kreon, der herrschende Tyrann, der diese Hierarchie umkehrt. Die Bühnenfigur Antigone des Dichters Sophokles ist eine politische Gründergestalt Europas, Kreon verkörpert das feindliche Prinzip; im Unterricht für die Nachkriegskinder ließ sich die Tragödie auch als Lehrstück über Befehl und Gehorsam im NS-Staat lesen. In der Migrationsabwehr hat Europa die Seiten gewechselt. Es bekennt sich zur Moral des Tyrannen…“ Kommentar von Andrea Dernbach vom 21. August 2017 beim Tagesspiegel online , siehe dazu:
- Europa am Ende: Zeichen der kommenden Apokalypse
„Europa stirbt. Oder besser gesagt, es begeht vor unseren Augen Selbstmord. Der Suizid wird jedoch nicht nur durch fehlgeschlagene Politik vorangetrieben. Wir sind alle Komplizen. Flüchtlinge, die in Belgrad vergessen werden, die aus Calais und Idomeni weggeschickt werden. Millionen von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und Europa erreichen. Mauern werden von Frankreich bis Ungarn hochgezogen, Grenzen gefestigt und Schengen ausgesetzt. Terrorangriffe von London bis Istanbul, von Paris bis Berlin, von Nizza bis München. Wer irgendeine europäische Stadt dieses Jahr bereist hat, konnte Polizisten und Soldaten sehen, die an Flughäfen, Einkaufszentren oder Bahnhöfen patrouillieren. Europa rutscht in einen dauerhaften „Ausnahmezustand“, wie von Carl Schmitt definiert, angeblich, um die sogenannten „europäischen Werte“ zu verteidigen. Doch es sind diese „europäischen Werte“, die ausgesetzt werden. Die Schilder der Einbahnstraße waren offensichtlich für alle, die diesen Sommer in Hamburg waren. Selbst heute, wenn nur kurz ein Helikopter vorbeifliegt, fühle ich mich in den G20-Albtraum zurückversetzt, als vier Tage lang Helikopter und Polizeisirenen den Soundtrack eines gescheiterten Systems bildeten, das beweisen will, dass es noch lebt. Auf der einen Seite sind die extrem uneinigen G20, auf der anderen gibt es Proteste und Gewalt. Während die gesamte Stadt blockiert und leer war, während die Demonstranten und Polizisten in einem postapokalyptischen St. Pauli aufeinandertrafen, hörten die Mächtigen der Welt Beethovens „Ode an die Freude“ in der Elbphilharmonie. Und so wird wahrscheinlich das Ende der EU aussehen. Es kommt nicht mit einem großen Knall, es wird ein unbestimmter „Ausnahmezustand“, Armut und Niedergang, begleitet von „Alle Menschen werden Brüder…“. Gastbeitrag von Srecko Horvat vom 14. August 2017 bei Spiegel online